Ein Löwenzahn, der den Asphalt durchbricht
- Jasmin
- 8. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Dieses Mal treffe ich das Löwenzahnkind Lina. Mit ihren 23 Jahren ist sie das jüngste Löwenzahnkind, das ihre Geschichte öffentlich mit uns teilt. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Denn es braucht Mut, über die eigene Geschichte zu sprechen.
Sie mag noch jung, ja beinahe zart sein, doch ihre Art ist beeindruckend stark. Genauso stark wie der Löwenzahn, der immer einen Weg findet, um zu wachsen und zu strahlen.
Zu sehen, wo diese jungen Löwenzahnkinder heute stehen, trotz allem was war, beeindruckt uns ältere Löwenzahnkinder immer wieder.
Die Geschichte von Lina bewegt mich sehr, denn sie könnte mit den 18 Jahren, die zwischen uns liegen, meine Tochter sein. Es ist keine Geschichte, die vor 30 Jahren passiert ist, sondern eine, die sich erst vor wenigen Jahren zugetragen hat und auch heute noch geschieht. In der schönen, scheinbar wohlgeordneten Schweiz. Zwischen Chäs, Schoggi und Schwiizer Bergä.
Wie oft muss ich mir bei Podiumsdiskussionen anhören: «Das war früher so – heute ist das anders.» Anders? Besser? Hat sich in den letzten 30 Jahren wirklich so viel verbessert?
Wenn ich Lina zuhöre, habe ich grosse Zweifel daran. Ich frage mich, was genau hat sich für diese Kinder eigentlich verbessert?
Linas Geschichte ist kein Einzelfall. In fünf Jahren Vereinsarbeit höre ich immer wieder ähnliche Geschichten – von jung bis alt. Doch viele wollen es nicht wahrhaben. Sucht bleibt ein Thema, das wir gerne unter den politisch sauberen Teppich kehren – irgendwo zwischen «nicht mein Problem» und «selbst schuld». Diese Ignoranz überträgt sich auf die Kinder und sie beginnen zu schweigen. Hinzu kommt, dass der Bundesrat und das Parlament mit den aktuellen Sparmassnahmen zeigen, welchen Stellenwert das Thema Sucht tatsächlich hat. In diesem Bereich wird um satte 25% gekürzt. Aber wer braucht schon Prävention, wenn man später lieber teure Therapien bezahlen kann? Hust.
Mittlerweile ist auch Europa von der Droge Fentanyl betroffen. Obwohl die Verbreitung derzeit noch begrenzt erscheint, sollte die Entwicklung aufmerksam beobachtet werden. Denn uns liegen bereits erste Fälle vor, in denen Löwenzahnkinder berichten, dass ihre Eltern mit Fentanyl in Kontakt gekommen sind. Aber wie schon damals beim Heroin scheint die Schweiz zu glauben, dass Fentanyl an der Landesgrenze haltmacht. Ach, Schweiz – wie süß dein Denken ist. Oder eher naiv?
Dieses Denken und dieser Entscheid sind für mich ein Rückschritt. Meilenweit entfernt von einer echten Entstigmatisierung. Doch wie so oft, leiden darunter die Jüngsten – die Löwenzahnkinder. Applaus!!

Doch beginnen wir mit Linas Geschichte.
Ich treffe mich mit Lina in Zürich. Es ist ein sonniger, warmer Samstag. Wir überlegen, wohin wir gehen sollen, um in Ruhe sprechen zu können. Platzspitz? Ironie ahoi. Obwohl wir beide kein Problem damit gehabt hätten, erscheint uns der See doch etwas gemütlicher. Also setzen wir uns ans Ufer, und Lina beginnt zu erzählen:
«Meine Mutter hatte keine einfache Kindheit. Sie ist selbst ein Löwenzahnkind, denn ihr Vater hatte ein Drogenproblem – Alkohol. So begann sie schon früh, ihren seelischen Schmerz mit harten Drogen zu betäuben – unter anderem auch auf dem Platzspitz. Trotz ihrer Sucht schloss sie ihr Studium zur Sozialpädagogin ab, arbeitete jedoch nie in ihrem Beruf. Sie wäre eine wundervolle Sozialpädagogin geworden, denn sie war eine Frau mit Herz, Verstand und einer tiefen Fähigkeit zur Empathie». Und diese Worte bleiben hängen, denn sie zeigen, was hätte sein können. Doch die Sucht war stärker und so verlor die Fachwelt eine Perle, bevor sie glänzen konnte.
Ich frage sie, ob sie sich an eine Zeit erinnert, in der sie noch ein normales Familienleben hatte. Darauf antwortet sie: «Ich glaube das ist der Grund, warum ich heute so stark bin. Bis zu meinem fünften oder sechsten Lebensjahr erlebte ich meine Mutter drogenfrei und hatte eine schöne und stabile Familie. So, wie man sich eine Familie eben wünscht. Ich sehe das auf den alten Fotos und den Videos. Ich war einfach nur ein Kind. Ich durfte Kind sein.»

Doch das Idyll zerbrach. Durch eine Opertation bekam ihre Mutter opiathaltige Medikamente und alles begann sich zu verändern. Die starken Schmerzen und Medikamente führten zu einem Rückfall, so nahm das Heroin wieder seinen Platz ein.
Ihr Vater war drogenfrei und wollte lange nicht glauben, was da geschah. Zu sehr liebte er seine Frau, klammerte sich an die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Doch es wurde nicht besser. Die Sucht war stärker und führte zur Trennung der Eltern.
Obwohl es Meldungen gab – von Behörden, von der Schule, vom Vater selbst –, wurde das Sorgerecht der Mutter zugesprochen. Mit der Begründung sie würde den Weg aus der Sucht finden, wenn die Kinder bei ihr blieben. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllte. Ein Vater, der gebrochen und ohnmächtig zurückblieb.
Kinder, die plötzlich auf sich allein gestellt waren und durch ihre Situation viel zu früh erwachsen werden mussten. Das zu Hause war chaotisch. Verbunden mit unruhigen und schlaflosen Nächten. Erholung hatten sie kaum, da ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Ihre Mutter wollte die Kinder nie alleine zu Hause lassen und nahm sie spät abends mit in die Stadt, nicht aus Abenteuerlust, sondern weil die Sucht nach Stoff verlangte. Dazu kam der zusätzliche Stress für die damals neunjährige Lina. Sie kümmerte sich um den Haushalt, sorgte für ihre kleine Schwester, duschte und weckte sie jeden Morgen für die Schule. Kein Wunder, dass sich Lina in der Schule vor lauter mentaler und körperlicher Erschöpfung nicht konzentrieren konnte .

Sie war noch ein Kind und trug bereits die Last eines Erwachsenen. Während andere in ihrem Alter vielleicht das erste Mal allein Bus fuhren oder sich auf dem Spielplatz austoben konnten, organisierte Lina mit neun Jahren den Alltag. Kind sein? «Das war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.»
An den Wochenenden verbrachten die Kinder Zeit bei ihrem Vater. Hier konnte die kleine Lina etwas zur Ruhe kommen, ein kleines Stück Sicherheit inmitten des Chaos. Durch die Ruhe, Struktur, Sauberkeit und Ordnung durften sie und ihre kleine Schwester einen Moment Normalität erleben. Doch auch hier fiel es Lina schwer, wirklich ein Kind sein zu dürfen.
Der Vater war oft in sich gekehrt, gefangen in seiner eigenen Ohnmacht. Zu schmerzhaft war die Enttäuschung, dass er das Sorgerecht nicht erhalten hatte und dabei zusehen musste, wie seine Kinder litten. Und Lina? Sie spürte genau, wie ihr Vater im Stillen innerlich zerbrach. So fühlte sie sich auch für ihn verantwortlich und musste für die ganze Familie stark sein.
Mit 19 Jahren war der Punkt erreicht, an dem Lina nicht mehr konnte. An einem Freitag nahm sie all ihren Mut zusammen und rief ihren Vater an: «Bitte komm heute Abend zum Essen. Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich will mit meiner Schwester zu dir kommen.» Der Plan war beim Abendessen in ruhiger Atmosphäre mit der Mutter zu sprechen - ihr behutsam zu erklären, dass sie ausziehen würden. Doch wie so oft war auf sie kein Verlass und sie erschien gar nicht erst. Trotzdem entschied sich Lina zu packen und mit ihrer Schwester zum Vater zu ziehen, da sie dringend Abstand brauchte. Als die Mutter davon erfuhr eskalierte die Situation. Sie drohte damit, Selbstmord zu begehen und all die Sachen von Lina und ihrer Schwester zu verbrennen. Wow.
Als wäre die Situation nicht schon belastend genug, lag nun auch noch das Leben der Mutter in Linas Verantwortung.

Das Gedankenkarussell begann sich unaufhaltsam zu drehen: Was, wenn sie es diesmal wirklich tut? Wenn es nicht nur Worte waren, nicht nur ein weiterer Ausbruch?
Wäre es meine Schuld, weil ich meine Mutter verlassen habe?
Als das Wochenende sich dem Ende zuneigte, merkte Lina, dass sie noch die restlichen Sachen aus der Wohnung holen musste. Der Gedanke, allein zurückzugehen, schnürte ihr die Brust zu. Also bat sie ihren Vater, mitzukommen und im Auto zu warten. Als sie vor der Tür stand, zögerte Lina. Die Stille auf dem Flur wirkte plötzlich bedrückend. Mit klopfendem Herzen drückte sie die Tür langsam auf und konnte nur hoffen, dass sie vom Schlimmsten verschont bleiben würde. Ihre Mutter war da, zumindest körperlich, weit weg von der Realität und völlig zugedröhnt. Der Anblick schmerzte, doch Lina liess sich nicht davon abhalten ihre Sachen zu packen. Als der Mutter bewusst wurde, was vor sich ging, schrie sie durch die Wohnung, beschimpfte Lina und drohte erneut, sich umzubringen.
«Ja, ja … ja, ja», antwortete Lina auf die Wutausbrüche und wollte so schnell wie möglich aus dieser Situation verschwinden.
Als sie die Wohnung verliess, rief Lina aus Angst und Verantwortung die Polizei und schilderte die Situation. Die Mutter wurde von der Polizei aufgegriffen, bestritt jedoch alles und wurde wieder freigelassen.
Das ganze Wochenende war ein Gefühlschaos aus Angst, Sorgen, Schuldgefühle, Trauer und Wut. Trotz der herausfordernden Situation funktionierte Lina weiter und erschien pflichtbewusst bei der Arbeit. Doch sie merkte schnell, dass alles zu viel war und suchte das Gespräch mit ihrer Chefin. Dieser Schritt war nicht leicht, es kostete sie viel Kraft und Mut. Aber sie tat es.
Nicht, weil sie Mitleid oder einen Sonderstatus wollte, sondern etwas Verständnis für ihre Situation um einen Moment durchatmen zu können.
Auf meine Frage, wie ihre Chefin reagiert habe, antwortete Lina: «Verständnis für meine Situation gab es kaum. Da wir zu wenig Leute waren, musste ich einfach weiterarbeiten.»
Lina hätte sich eine Pause verdient, doch die Situation zwang sie wieder in ihr gewohntes Muster zu fallen - funktionieren und überleben. What the f***, etwas mehr Verständnis hätte nicht geschadet oder?
Solltest du irgendwann als Chefin oder Chef in eine ähnliche Situation kommen, dann vergiss bitte eines nicht: Löwenzahnkinder tragen oft viel mehr Verantwortung, als man sieht. Sie lernen früh, zu funktionieren, den Alltag zu meistern, sich anzupassen – und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen. Wenn ein junger Mensch in der Schule oder im Betrieb den Mut aufbringt, über die familiäre Belastung zu sprechen, braucht das enorm viel Überwindung. Denn Scham und Schuldgefühle sitzen tief. Wer spricht, zeigt Stärke. Und wer zuhört, kann Halt geben. Eine Unterstützung in solchen Momenten kann entscheidend sein.

Als sich unser Gespräch dem Ende zuneigt, schaue ich Lina an und sage: «Wow, unglaublich, wie du all das bewältigt hast. Du kannst wirklich stolz auf dich sein. Hast du das alles allein geschafft – oder hast du dir irgendwann professionelle Hilfe geholt?»
Lina nickt leicht und antwortet: «Ich kam an einen Punkt, an dem gar nichts mehr ging. Mein Körper, mein Geist, meine Seele – alles hat gestreikt. Da wusste ich: So geht es nicht weiter und habe die Entscheidung getroffen, mich in einer psychiatrischen Klinik anzumelden. Es war während der Corona-Zeit. Für mich war dies, so komisch es klingt, ein Geschenk. Ich habe mich dort mit dem Virus infiziert und wurde in meinem Zimmer isoliert. Alleinsein war für mich kein Problem, es war Erholung, fast ein Luxus. Endlich konnte ich durchatmen, Energie tanken, ohne dass jemand etwas von mir wollte. Niemand hat mich gestört. Ich durfte einfach mal nur für mich sein.»
Wow. Was für Worte von Lina. Da frage ich mich: Muss es wirklich so weit kommen, damit ein Löwenzahnkind sagen darf: «Endlich ging es mal um mich. Endlich konnte ich zur Ruhe kommen.»
Was denkst du, liebe Leserin und lieber Leser?

Trotz ihrem schweren Rucksack hat Lina ihre Ausbildung nicht nur begonnen, sondern auch erfolgreich abgeschlossen. Das ist mehr als eine starke Leistung. «Es ist ein stilles Wunder.»
Liebe Lina, Danke für dein Vertrauen und deinen Mut!!
Alles Liebe
Jasmin


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