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Metamorphose

Aktualisiert: 15. Juni 2023

Die Zeit nach meinem Schlag in deine Mitte und meinem Schrei nach Freiheit brachte viele Veränderungen mit sich. Ich fühlte mich wie eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und Jeanne d'Arc - jugendlich übermütig, aber stark entschlossen mich für das Richtige einzusetzen , und unzerstörbar. Mein Mut und meine Entschlossenheit, mich für mich selbst und mein Leben zur Wehr zu setzen, haben sich gelohnt. Die Fronten zwischen uns hatten sich verschoben , durch einen einzigen Moment.




,,Ich warf jeden aus meinem Leben, der sich negativ auf mich auswirkte,,









Ein Gedanke, der in einer kalten Nacht an einem deutschen Bahnhof wuchs, weil ein Mensch sich das Leben nahm und mir mein Leben damit unbewusst zurück schenkte.

Dein Trinkverhalten wurde extremer. Deine Wut und deine krankhafte narzisstische Art wichen allerdings einer tiefen Depression.


Du gingst kaum mehr arbeiten, sondern verbrachtest deine Tage nur noch in Kneipen.

Mama arbeitete von morgens früh bis spät am Abend. Sie stand sechs Tage die Woche stramm und versuchte die Familie finanziell durchzubringen.

Abends, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, ging ich nicht mehr, so schnell ich konnte , in mein Zimmer , sondern ich setzte mich zu dir und hielt dir Vorträge. Unzählige Vorträge über unser Leben und unsere Vergangenheit miteinander. Ich grub meine ganze Kindheit aus und schüttete sie dir auf den Tisch.


Mein jahrelanges Schweigen, mich nicht äussern zu können und es nicht zu dürfen, war vorüber. Ich ging wie ein Prediger vor dem Esstisch auf und ab und gestikulierte wild mit meinen Armen. Meine Gedanken, meine Überzeugungen und Ansichten sprudelten aus mir heraus wie aufgestautes Wasser aus einem zu lange zugedrückten Gartenschlauch.

Ich überforderte dich damit. Du hast mich manchmal nur kopfschüttelnd angestarrt in der Hoffnung , dass ich dich endlich in Frieden lassen würde. Du hast wehrlos vor deinem Bier gesessen , dir alles gefallen lassen und manchmal vor Verzweiflung und Scham in dein Bier geweint.

Du hattest kaum Erklärungen über das Warum für mich, warst unfähig dich zu entschuldigen. Es war auch nicht so wichtig, denn ich gab dir Stück für Stück meiner versengte Erde zurück.

Ich drehte nicht nur bei dir auf. Ich trennte mich von meinem Freund und mein Freundeskreis erlebte einen Rundumschlag. Ich warf jeden aus meinem Leben, der sich negativ auf mich auswirkte.






,,Wenn die Menschheitsgeschichte uns eines gelehrt hat, dann dass wir Menschen die Fähigkeit besitzen, in der Stunde Null einen Anfang und kein Ende zu sehen...,,







An meiner Ausbildungsstelle legte ich ein anderes Verhalten an den Tag. Ich liess mich nicht mehr zu Aussprachen zitieren und mir sagen, dass aus Menschen wie mir niemals etwas werden würde. Ich forderte selbst Besprechungen - von da an war ich diejenige mit der Traktandenliste. Ich klärte meine Vorgesetzten über die Wichtigkeit von Sozialkompetenz in Führungsfunktionen auf, demonstrierte an Beispielen, die mir widerfuhren, wie man es nicht machen sollte. Ich verursachte einige Schamgefühle und gleichzeitig enorme Gegenwehr- womit ich gerechnet hatte.

Es war mir egal. Ich lernte, die Ablehnung von wertbefreiten Menschen als Kompliment aufzufassen. Ich drückte die letzten Wochen meiner Lehrzeit bewusst aufs Gaspedal und befasste mich das erste Mal seit drei Jahren mit dem nervtötenden Schulstoff für die Lehrabschlussprüfung. An der Diplomfeier nahm ich zuvorkommend lächelnd und dankend von meinen Vorgesetzten einen zusätzlichen Blumenstrauss entgegen, weil sie mich aufgrund meiner Bestnote als ,,beste Lernende aller Zeiten,, auszeichnen mussten.

Du warst nicht dabei, Vater, aber für den Gesichtsausdruck meiner Vorgesetzten hättest du mich gefeiert. Sie boten mir danach eine Anstellung an - ich lehnte ab. Ich hatte andere Pläne.

In meinem letzten Ausbildungsjahr verbrachte ich einige Zeit in den Vereinigten Staaten. Ich wollte weg von Europa und suchte mir bezahlbare Schulen in den USA.

Mama drehte es beinahe den Magen um, weil mir Deutschland nicht mehr weit genug weg war. Ich reiste mit siebzehn Jahren alleine in die USA und sah mir eine mögliche Schule an. Sie musste dich anlügen und dir sagen, dass ich an einem betreuten Sprachaufenthalt teilnahm. Sie hielt mir das jahrelang vor. Ich verliebte mich auf meiner Reise in einen jungen Studenten, der sich bereits im Abschlussjahr befand.

Mein Zeil nach der Ausbildungszeit war somit klar - bis immer mehr Betreibungen in unseren Briefkasten flatterten...






,, Weisst du, ich hätte nach all den Jahren Krieg gegen dich Ruhe gebraucht. Frieden, Geborgenheit, Unbeschwertheit, Sicherheit und Schutz. ,,




Du hast es jahrelang fertiggebracht Mama zu verheimlichen, wie es finanzielle um euer Geschäft stand. Sie hatte keine Einsicht in die Bücher, nur du.

Während sie täglich zwölf Stunden schuftete, hast du das Geld weggetrunken und verspielt. Die Betreibungen nahmen Woche für Woche zu. Mama konnte den Briefkasten nicht mehr öffnen, sie weinte schon beim Gedanken daran. Ich machte das für sie, so gut es ging.

Ich hatte gerade den letzten Arbeitstag meiner Ausbildung hinter mich gebracht und war zuhause mit den Vorbereitungen für meine Auswanderung in die USA beschäftigt. Die Banken hielten euch bald das Gewehr an dir Brust und stellten euch vor die Wahl. Eines der Kinder müsse die Hypotheke weitertragen, ansonsten würdet ihr euer Zuhause verlieren.





,, Mein jahrelanges Schweigen, mich nicht äussern zu können und

es nicht zu dürfen, war vorüber. ,,








Mein Geschwister war bereits familiär eingespannt und hatte kleine Kinder, es blieb also nur ich. Hätte ich in dieser Situation davonlaufen können? Ja, aber ich konnte es nicht. Ich unterschrieb gerade erst volljährig die ersten Hypothekarverträge meines Lebens mit zusätzlichen Knebelverträgen, weil ich so jung war.

Ich enttäuschte meinen Freund in den USA. Er zog danach in den Krieg nach Afghanistan gegen Osama Bin Laden. Ich zog in den Krieg gegen Banken und mich selbst.

Und du , Vater?

Du bist aus der Wohnung ausgezogen und hast dich , nachdem du alles in Schutt und Asche getrunken hast, aus dem Staub gemacht. Ich sah dich danach nur noch selten. Du hast nie gefragt , ob Mama und ich es schaffen, finanziell alles zu tilgen. Weisst du, ich hätte nach all den Jahren Krieg gegen dich Ruhe gebraucht. Frieden, Geborgenheit, Unbeschwertheit, Sicherheit und Schutz.

Stattdessen bügelte ich jahrelang deine Versäumnisse aus. Arbeitete bis zum Umfallen, um alles bezahlen zu können, und schleppte mich auf allen vieren zu Therapeuten, um zu verarbeiten.

Ich begegnete Menschen, denen ich vertraute und die mich eiskalt verrieten, aber ich begegnete auch guten Menschen, die mir Kraft gaben. Ich kroch in meinen ersten erwachsenen Jahren oft zu Kreuze. Ich scheiterte . Immer wieder. Stand wieder auf und fing von vorne an.

Weisst du was, Vater, die verbrannte Erde , in der wir gepflanzt wurden, trägt nicht nur

Last der Kriege in sich, sondern auch die Kraft wieder aufzustehen. Wenn die Menschheitsgeschichte uns eines gelehrt hat, dann dass wir Menschen die Fähigkeit besitzen, in der Stunde Null einen Anfang und kein Ende zu sehen...


Wie die Raupe in ihrem Sein zugrundegehen muss, um etwa Neues , Schöneres

hervorzubringen, liess ich Schritt für Schritt mein altes Ich hinter mir und erlaubte mir, mich neu zu erfinden.


Snjezana, 39





Dieses Kapitel stammt aus dem Buch von Snjezana. Wir danken dir für dieses wundervolle Kapitel, dass wir es auf unserem Blog teilen dürfen.



Alles Liebe Löwenzahnkinder - Team


















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