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  • Jasmin

Lesli das starke Löwenzahnkind

Aktualisiert: 19. Aug. 2020


Ich bin auf dem Weg zu einem weiteren Löwenzahnkind. Es ist ein Löwenzahnkind, welches ich schon seit meiner Kindheit kenne.

Ihr Name ist Lesli.

Wir verbrachten mehrere Jahre in demselben Kinderheim. In diesen sechs Jahren entwickelte sich eine unzertrennliche Freundschaft.

Leider ging diese Freundschaft durch meinen Heimaustritt im Jahr 2000 für längere Zeit verloren. Damals war ich sehr geprägt von den zehn Jahren Kinderheim. Wollte nichts mehr in meinem Leben haben, das mich daran erinnern könnte. Dazu gehörte leider auch Lesli.

,,Ding ding ding nächster Halt Zauberwald,, schallt es aus dem Lautsprecher der S-Bahn.

Huch, ich bin ja schon da. Hier muss ich aussteigen. Wie so oft, muss ich im Stress mein ganzer Kram der schön auf dem Sitz verteilt ist zusammenpacken, Chaot Ahoi.

Noch einen kurzen Blick zu meinem Sitzplatz, jawohl alles dabei.


Ich steige aus der Bahn, bleib für einen Moment stehen und nimm einen tiefen Atemzug. Hach, einfach herrlich diese Landluft. Sofort versinke ich in alten Erinnerungen.

Dieses Dorf verbindet Lesli und mich sehr. Hier haben wir uns vor 26 Jahren kennengelernt.

Das traurige an dieser Geschichte ist, dass wir heute das aller erste Mal über die Hintergründe ihres Heimaufenthaltes sprechen.

Nie haben wir über unsere Probleme von Zuhause gesprochen. Nicht einmal mit der besten Freundin.

Hier muss es sein, ah ja hier steht es: Familie Löwenzahn. Voller Freude klingle ich an ihrer Wohnungstür. Mit einem strahlenden Lächeln öffnet mir Lesli die Türe und dazu gibt es eine herzliche Umarmung.

Wow, da steht sie vor mir, dieses starke Löwenzahnkind. Eine schöne und fröhliche Frau, welche mit beiden Beinen im Leben steht. Sie hat vier wunderbare Kinder und einen unglaublich tollen Ehemann.

Ich bin so glücklich dies sehen zu dürfen wie es ihr heute geht. So unglaublich stolz auf Lesli wie sie ihr Leben gemeistert hat.







,,Ich möchte mit meiner Geschichte Mut machen, endlich das Tabuthema brechen,,











,,Jasle, ich mach uns noch einen Kaffee und dann setzen wir uns auf die Terrasse, dort können wir in aller Ruhe reden.,,

Wir setzten uns hin auf der gemütlich eingerichteten Terrasse und trinken in aller Ruhe unseren Kaffee.


,,Hast du eigentlich Fotos von der Zeit, als du noch Zuhause gelebt hast?,, frage ich Lesli.

Sie schaut mich an, verschwindet kurz in ein Zimmer und kommt mit verschiedenen Fotoalben zurück.

,,Schau mal Jasle, hier hat es sogar eine ganze Seite mit Fotos von uns.,,

Dabei nicht zu übersehen die grosse Überschrift: Meine aller beste Freundin Jasle.

In diesem Moment kann ich meine Tränen nicht zurückhalten.

Ich entschuldige mich bei ihr für mein damaliges Verhalten. Durch unser Gespräch und die Fotos, wird mir bewusst wie sehr ich Lesli damals verletzt habe.

Tröstend sagt Lesli: ,,Es ist alles in Ordnung, es ist doch einfach schön, dass wir uns wieder gefunden haben.,,










,,Unsere Freundschaft war für mich damals ein grosser Halt,,














,,Magst du mir erzählen weshalb du ins Heim gekommen bist und wie es für dich damals war?,,

,,Ja klar, deshalb bist du ja hier,, antwortet Lesli mit einem Lachen.


Meine Eltern trennten sich schon sehr früh. Damals lebten meine Schwester und ich bei unserer Mutter.Wenn unser Vater nicht in der Psychiatrie war, kam er täglich auf Besuch.

Ich mag mich nicht daran erinnern, dass ich als Kind einen geregelten Tagesablauf hatte.

Es fing schon als sechsjähriges Mädchen damit an, dass ich am Morgen meine kleine Schwester aufweckte, ihr Frühstück zubereitete und darauf schaute, dass wir beide Pünktlich zur Schule kamen.


In der Schule schlief ich oft ein. Erschöpft durch den wenigen Schlaf, erschöpft da es Zuhause oft kein richtiges oder gar kein Essen gab.

Fast täglich war die Polizei bei uns, weil meine Mutter besoffen war und ausrastete. Sie kamen vorbei, schauten nachdem rechten und gingen wieder. Jahre lang ging das so weiter.

Obwohl es offensichtlich war was bei uns ablief, reagierte niemand.


Wenn wir von der Schule nachhause kamen, fanden wir oft meine Mutter besoffen auf dem Boden.

Sie reagierte kaum, als wäre sie im Koma und doch war uns dieser Zustand lieber. Denn wenn sie noch stehen konnte, wurde sie laut und war aggressiv.

Vor allem gegenüber meiner Schwester und meinem Vater. Völlig Hilflos musste ich dabei zusehen, wie sie meinen Vater oder Schwester schlug und an den Haaren riss.

Durch diese Zustände Zuhause, flüchteten wir oft durch das Fenster nach draussen. Es war normal, dass ich als sieben jähriges Mädchen bis spät abends durch Zürich zog.

Doch diese Flucht brauchte ich. Sie gab mir in dem Moment etwas Ruhe.

Je älter ich wurde, desto länger wurden die Abende.

Ich begann zu stehlen und fehlte teilweise in der Schule. Es war mir egal. Es war toll als Kind nach seinen eigenen Regeln zu leben. Den Respekt hatte ich von den Erwachsenen verloren bis auf meine Oma und meinem Vater.







,,Auf dieses Kleid war ich besonders Stolz, es war ein Geschenk von meiner geliebten Oma,,









Meine Oma war oft bei uns. Sie brachte etwas zu Essen, feierte mit uns Geburtstag oder wir wurden gepflegt.

Durch die Verwahrlosung hatte ich oft verfilztes Haar und trug schmutzige Kleider. Die Wochenenden verbrachten wir viel bei unserer Oma und durften einfach Kinder sein.

Für mich war meine Oma wie ein Engel! Ein wichtiger Halt in meinem Leben! Ich bin ihr unendlich Dankbar für alles was sie für uns getan hat!

Mein Vater gab uns immer wieder die Liebe die wir brauchten. Er verbrachte Zeit mit uns am See oder unternahm andere schöne Dinge.

Er versuchte uns einen Moment Normalität zu schenken, trotz seiner Drogensucht und labiler Psyche.

Irgendwann wurde uns alles zu viel und wir flüchteten zu einer Freundin. Dort versuchten wir uns zu verstecken. Doch die Polizei fand unser Versteck und brachte uns direkt in ein Übergangsheim.

Ganze acht Jahre wurde nicht reagiert und dann eine solche Aktion!?

Ich verstand damals die Welt nicht mehr.

Schon verrückt, dass noch heute solche Aktionen stattfinden, ob man es glauben will oder nicht.

Eigentlich wollten uns meine Oma und meine Tante bei sich aufnehmen, doch damit war meine Mutter nicht einverstanden.

Gelitten unter dem Entscheid, haben wir Kinder.

So kamen wir vom Übergangsheim ins Kinderheim wo ich dich kennenlernen durfte.



Sicherlich war es für uns besser, dass wir von Zuhause weggekommen sind.

Jedoch war es für mich ein sehr schwieriger Start. Auf einmal gab es Regeln. Wenn du diese nicht befolgen wolltest, wurde man dafür bestraft. Es gab wenig Verständnis für mein Verhalten. Für mich war es eine Überforderung, die Regeln, der strenge glaube an Gott, ein sauberes Bett, genug Schlaf und immer etwas zu Essen. So viele Dinge, die ich auf plötzlich lernen musste.


Als ich ins Kinderheim kam, war ich sehr dünn. Man sah es mir an, dass ich Zuhause zu wenig Essen bekommen hatte.

So kann ich es heute nicht verstehen, dass ich als neunjähriges Mädchen einmal im Monat fasten musste.Gelernt, dass es Kinder gibt denen es schlechter geht als mir. Durch das schlechte Gewissen, dass mir eingeredet wurde, habe ich mein Taschengeld gespendet.,,

,,Ihr habt auf eurer Gruppe auch gefastet, ich dachte immer das wäre nur auf unserer Gruppe gewesen.,, sage ich erstaunt.

Damit man es als Leser besser verstehen kann, erkläre ich euch kurz wie so ein Fasten aussah.

Wie gesagt wurde einmal im Monat an einem Abend gefastet.

Es gab nur etwas Wasser und Brot. Auf dem Tisch stand schön ersichtlich ein Sparschwein und ein Foto von einem Kind aus Afrika.

Die Pädagogen wiesen darauf hin, dass es dieser Person auf dem Foto viel schlechter gehen würde als uns.

Die Idee den Kindern beizubringen, dass es Menschen auf dieser Welt gibt die sehr arm sind, finden wir primär nicht schlecht.

Aber die Art wie es umgesetzt wurde, ist schon sehr fragwürdig!?

Da waren Kinder genau aus diesem Grund im Heim. Kinder wie Lesli, die immer wenig bis kein Essen hatte. Sie wusste wie es sich anfühlt, wenn man Hunger hatte aber nichts zu Essen.

Durch solche Momente begannen wir unsere Situation und unser Leiden schön zu reden. Versuchten Dankbar zu sein für das was wir hatten. Dadurch fühlten wir uns immer schlechter. Machten uns noch kleiner als wir schon waren.

Oft lagen wir dann mit Hunger im Bett, durften nichts mehr essen. Schliesslich sollten wir fühlen wie es diesen Kindern geht.

Wie konnten wir so Vertrauen aufbauen? Geschweige noch einen Erwachsenen respektieren?


Eine weitere Geschichte die wir nie vergessen werden war, als Lesli 15 und ich 16 Jahre alt waren.

Wie jeden Morgen nachdem Frühstück hatten wir Andacht. Es wurden religiöse Geschichten erzählt, Psalmen aus der Bibel zitiert oder ein Lied gesungen.

An diesem Morgen arbeitete ein Leiter der seine Macht immer sehr ausnutzte. Wir waren durch seine Präsenz und sein Verhalten oft eingeschüchtert. Gewalt war bei ihm an der Tagesordnung, sowie auch an diesem Morgen.



Während er etwas aus der Bibel erzählte, schüttete Lesli ausversehen die Milch um. Wir fanden dies natürlich lustig, ja wir feierten es. Endlich hatten wir die Macht über ihn. Gehofft, dass die Andacht durch den ständigen Unterbruch ausfällt. Doch weit gefehlt, er begann wieder mit dem ersten Satz der Geschichte.

Lachend sagte Lesli: ,,Oh nein, es ist ja alles auf dem Boden.,,

Wir Jugendlichen mussten alle auch etwas schmunzeln, den es war bereits das zweite mal, dass durch Lesli die Andacht unterbrochen wurde.

Man konnte es dem Leiter ansehen, dass er langsam aber sicher die Geduld verlor. Trotzdem beharrte er auf die Andacht und fing nochmals. Als Lesli mit dem Putzen begann und den Stuhl etwas zur Seite schob, kippte er unglücklicherweise auf den Boden.

Da war er der Moment, als der Leiter seine Beherrschung verlor. Er holte aus und Lesli kassierte eine heftige Ohrfeige.

Alle waren Sprachlos. Wir wurden wütend und konnten seine Handlung nicht verstehen. Doch er war davon überzeugt, dass sein Verhalten korrekt war.

Nach dieser Geschichte suchten wir Jugendliche gemeinsam das Gespräch mit dem damaligen Heimleiter.

Es war nicht das erste Mal und trotzdem hofften wir, dass sich dieses Mal etwas verändern würde. Doch hörten wir immer denselben Satz: ,,Es wird nie mehr vorkommen.,,

Ja fast wie ein Mantra, wiederholte sich dieser Satz immer und immer wieder.

Geändert hatte sich jedoch nie etwas.
















,,Das ist meine Geschichte und es gäbe noch so viel zu erzählen. Wer hätte das gedacht, dass wir uns nach so vielen Jahren wieder Treffen und gemeinsam diesen Kindern eine Stimme geben?

Ich denke gerne an die Zeit zurück mit dir. Unsere Freundschaft gab mir damals sehr viel Halt. Du hast mich immer verstanden ohne dass wir über Erlebtes sprechen mussten.

Man hatte wenigstens einen Menschen im Leben, dem man Vertrauen konnte.,,

Es ist so wichtig, dass offen über dieses Thema gesprochen wird. Es geht nicht darum jemanden schlecht hinzustellen, schliesslich hatten wir auch viele schöne Momente. Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen was diese Kinder brauchen. Endlich das Tabuthema brechen, um anderen Betroffenen Mut zu machen.

Zu viele Kinder werden noch heute damit allein gelassen. Sie haben kein Vertrauen oder jemand der Verständnis zeigt für ihr verhalten.

Heimkinder die mit 18 Jahren das Heim verlassen und mit ihrer Geschichte wieder alleine gelassen werden.

Man hat zwar in den Jahren im Heim gelernt, was ein geregeltes Leben bedeutet, aber

nie gelernt wie mit der Geschichte oder dem Erlebten umzugehen ist. Nie gelernt wie man mit Schuldgefühlen, Selbstliebe oder Abgrenzung umgeht.

Wie soll ein Kind, welches nie Vertrauen fassen konnte, später im Erwachsenenalter plötzlich Hilfe holen, wenn es an seine Grenzen stösst?


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